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Wie aus dem Vergessenen, dem Übersehenen und dem Vernachlässigten gefeierte Schauspieler werden

 

Wie aus dem Vergessenen, dem Übersehenen und dem Vernachlässigten gefeierte Schauspieler werden.
Manchmal ist das Ungesagte interessanter oder bestimmender als das tatsächlich Ausgesprochene. Auslassungen, Pausen, auch das Verdrängte, Unbewusste oder das gesellschaftliche Tabu: Eine Reihe von Menschen in den unterschiedlichen Bereichen beschäftigt sich als feinfühliger Zuhörer oder aber als Psychologe oder Soziologe mit den Leerstellen, die gerade wegen ihrer Absenz, als geheime Agenten eigentlichen Antrieb und Motor für so etwas wie die faktische Realität oder Tatsachen bilden.
Karin Hueber führt dies in ihrer Arbeit auf exemplarische Weise vor. Sie interessiert sich nicht für Architektur, sondern für den Raum, den die Architektur übriglässt. Symptomatisch hierfür sind die zahllosen Scharniere, Drehachsen oder sonstigen Elemente, die Beweglichkeit implizieren. Es sind Türen, Spalten oder Durchgänge, die gerne – da allzu oft der Weg doch nicht das Ziel ist - als Übergänge in unserer Wahrnehmung nicht haften bleiben. Huebers meist bühnenartig inszenierte, architektonische Versatzstücke sind eigentlich Schauspieler, welche die Rest-Räume für sich nutzen, räumlich wie emotional.
Jede Arbeit Huebers ist damit ortsspezifisch oder leitet sich von Vorgefundenem ab. So geschehen in der Installation Repertoire (2010), die im Außenraum auf dem Flachdach eines kleinen Vorbaus plaziert war. Es verbanden sich drei unterschiedliche Elemente, eine zusammengesetzte, schräg abgewinkelte Spanplattenkonstruktion, ein weiterer Teil einer solchen Konstruktion, über die eine bei Transporten übliche Decke drapiert war, und drei einfache, schmale Regale in blauer Farbe. Hueber verwendete denkbar einfaches Material, die Versatzstücke standen seltsam unmotiviert und lakonisch in einem veritablen „Rest-Raum". Die Staffage an diesem vergessenen oder vernachlässigten Ort versprach – Türe auf und Bühne frei - einen Auftritt, eine Präsentation. Allerdings waren die Regale, die gleichsam eine Inversion von Innen und Außen, von privat und öffentlich suggerierten, leer. Was auch immer sich hier zeigen würde, die Verheißung einer möglichen Präsentation spitzte sich so in der Betonung ihrer Abwesenheit zu. Die Außenfassade und der bisher immer übersehene Leerraum wurden Ort einer Darbietung, welche der Besucher entweder gerade verpasst hatte oder die  jeden Moment beginnen konnte.
Während Repertoire den Rest-Raum im Außenraum zu einem neu gefassten und entsprechend für einmal gesehenen Raum verwandelte, handelt es sich bei der Reihe der Mouldings (2010) um Objekte kondensierter Resträume, die durch Kompression ein Eigenleben entwickeln. Wie der Titel verrät, sind es hier Abdrücke, welche die Künstlerin auf kleinen Regalen aus Glas präsentiert, um dem Betrachter den Blick von allen Seiten zu ermöglichen und das geballte Vergessene gleich einem Juwel als eigentliche Preziose vorzuführen. Was aussieht wie ein Gesteinsbrocken, ist aus einer Vielzahl von Abdrücken baulicher Details, von Kanten und Ecken entstanden. Die Künstlerin hat die Rest-Räume gesammelt und zu positiven Formen gewandelt. Ähnlich wie bei Repertoire tritt auch bei Mouldings das Vernachlässigte in Feierlichkeit auf.
Trotz der Einfachheit der gewählten Materialien erscheint in Huebers Ansatz das Übersehene als etwas Glänzendes und Gefeiertes. Tatsächlich verwendet sie neben den „armen“ Materialien immer wieder vereinzelt glänzende oder spiegelnde Elemente, ebenso arbeitet sie mit den örtlichen Lichtverhältnissen (Die mondänen Besucher I, 2008). Das Licht kann Räume ertasten, ausfüllen oder Spiegelung verstärken. Letzteres ermöglicht eine Doppelung oder Vergrößerung der Rest-Räume, ähnlich wie in Ohne Titel (2011). Die Künstlerin legte den minimal nötigen menschlichen Lebensraum fest und faltete diesen aus Papier zu einem Origamivolumen. Im Ausstellungsraum wiederum erscheint dieser gesellschaftlich gerne vergessene Raum auf die neuerlichen ortsspezifischen Bedingungen abgestimmt, aufgefaltet und drapiert. Das Sichtbare und das Unsichtbare (Merleau-Ponty) haben die Rollen getauscht.

 

2012

 

Christina Végh
Kunsthistorikerin, Kuratorin und Direktorin der Kunsthalle Bielefeld.